Eine kleine Geschichte darüber, was bleibt, wenn der Lärm der Welt einmal kurz nachlässt.
Der Urlaub war lange geplant – und ehrlich gesagt: überfällig. Wochenlang hatte sich das Leben angefühlt wie zu viel Bildschirm, zu viele Nachrichten, zu wenig Schlaf. Wir wollten raus – aus der Stadt, aus dem Lärm, aus dem Stress. Nur Meer, Wind und nichts müssen.
Zwei Wochen an der Nordsee klangen nach Rettung. Das kleine, frühere Fischerdorf nahe Den Haag hatte meine Mama schon vor Jahren entdeckt – fast verschlafen, aber direkt am Meer gelegen, mit langem Sandstrand und guter Öffi-Anbindung. Es war perfekt, um endlich durchzuatmen. Doch schon bei der Ankunft war klar: So ruhig würde es nicht werden.
Unter Agenten
Überall Polizei, Absperrungen, Militärfahrzeuge. Hubschrauber über den Dünen, schwarze Limousinen in den engen Straßen. Männer mit schwarzen Anzügen, Krawatten, Sonnenbrillen und Knöpfen im Ohr – als wären sie direkt aus einem Agentenfilm gestolpert. Nur dass der Film echt war. Und wir mittendrin.
Wir wussten seit Wochen vom NATO-Gipfel. Aber wir hatten vor einem Jahr gebucht – und dachten, dreißig Kilometer Entfernung würden reichen. Falsch gedacht.
Schon beim Einfahren in die Ortschaft fielen mir die vielen US-Flaggen auf. Vor allem das Luxus-Hotel im Ort war damit geradezu gepflastert. Normalerweise trennen ein traurig-grauer Betonparkplatz und ein Riesenrad die schicke Anlage von unserem schon sichtlich in die Jahre gekommenen Hotel. Dass sogar die Gondeln des Riesenrads abgebaut worden waren, verhieß nichts Gutes. Es war, als hätte jemand dem Ort zwar nicht den Charme, aber den Stecker gezogen.
Um die absurde Szenerie zu vollenden, hatte jemand „F… Trump“ in den Sand geschrieben. Keine zweihundert Meter weiter wärmte sich eine Robbe in der Sonne.
Unser kleiner Balkon bot einen wunderbaren Blick aufs Meer – und auf die Sicherheitskräfte, die sich mittags besonders gerne am Fischstand trafen. Um die absurde Szenerie zu vollenden, hatte jemand in riesigen Lettern „F… Trump“ in den Sand geschrieben. Keine zweihundert Meter weiter wärmte sich eine einsame Robbe in der Sonne.
Tagelang Ausnahmezustand. Straßensperren, Funkgeräte und Agenten – manche von ihnen fast schon komisch schlecht getarnt zwischen Badegästen. Sogar der Strandabschnitt vor dem Hotel blieb gesperrt. Kein Durchkommen. Selbst das Meer schien manchmal den Atem anzuhalten – nur um nachts mit ganzer Kraft die Wellen gegen die Gitterzäune zu schleudern.
Am Strand
Ende der Woche wurde es endlich stiller. Schon als die ersten Gitterzäune verschwanden, drängten wir zwischen den verbliebenen Absperrungen hindurch, als wollten wir uns die Freiheit zurückholen. Es war stürmisch, kühl – und befreiend.
Mit am Rucksack baumelnden Sandalen und der Kamera in der Hand spazierten wir endlich entspannt das Wasser entlang. Ein paar hundert Meter weiter wurde der Strand leerer, der Lärm leiser. Nur Wind, Wellen, Möwen – und dieser salzige Geruch, der den Kopf freimacht.
Ich atmete tief ein. Es war dieser Moment, in dem man spürt, dass die Gedanken wieder Platz haben.
Zuerst sah ich nur die Möwen. Ich beugte mich hinunter, machte ein paar Aufnahmen – und bemerkte im Augenwinkel einen Mann, der darauf achtete, die Vögel nicht zu vertreiben. Es schien fast, als sorge er dafür, dass die Möwen vor meiner Kamera posieren.
Der Mann wirkte sportlich, mittleren Alters – und er ging barfuß wie wir. Mit seinen kurzen Hosen, dem dunkelroten Pullover und den schon leicht angegrauten, vom salzigen Nordseewind zerzausten Locken fügte er sich perfekt in die niederländische Strandlandschaft ein. Sonne, Salzwasser – und wohl auch das Leben – hatten Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Er lächelte freundlich, fast verträumt. Die Earbuds in seinen Ohren wirkten wie ein Bruch – oder hörte er gar keine Musik, sondern nur den Gesang von Wellen, Wind und Möwen?
Verwundert sahen wir ihm nach. Die Möwen folgten ihm. Nicht aufgeregt, nicht laut – einfach in seinem Rhythmus. Als gehörten sie zu ihm. Ich grinste. Es wirkte, als hätte jemand einen geheimen Pakt mit der Natur geschlossen.
Im Gespräch
Von diesem Abend an sahen wir ihn fast täglich. Manchmal schon aus der Ferne, manchmal ganz nah. Einmal blieb er vor den Dünen stehen, sah zu den Möwen und hob kurz die Hand – wie ein stilles „Bis morgen“. Und die Möwen verstanden.
Er erzählte das, als wäre es die normalste Sache der Welt.
Ein anderes Mal sprach meine Mutter ihn an. Ich stand daneben und sah ihn lachen – dieses warme, offene Lachen, das nichts will. Nur da sein. Natürlich stellte ich die eine Frage. Er sagte, dass er schon immer gern am Strand spazieren geht. Eines Tages hätten zwei Möwen bei seinem Haus genistet – und irgendwann seien sie einfach mitgekommen. Dann kamen immer mehr dazu. Er erzählte das, als wäre es die normalste Sache der Welt. Wir scherzten ein wenig, ich zeigte ihm ein paar meiner Fotos. Ihm gefiel eines, auf dem die tief stehende Sonne fast das Meer glühen ließ – und schon winkten wir einander wieder zum Abschied. Er ging mit seinen Möwen der untergehenden Sonne entgegen und wir mit unseren Kameras.
Manchmal denke ich, irgendwo in einem Paralleluniversum schreibt ein Mann, der jeden Abend mit Möwen kilometerweit den Strand entlanggeht, in seinem Blog über zwei Frauen, die jeden Abend denselben Sonnenuntergang fotografieren. Unrealistisch. Aber nicht unmöglich. ;-)
Der Nachklang
Danach sahen wir den Möwenmann nicht mehr. Wäre ich ihm allein begegnet, ich hätte fast gezweifelt, ob er echt war. Originale gibt es ja erstaunlich viele – aber nur wenige leben das Ungewöhnliche so leise wie er, denke ich.
Ich denke noch oft an den Möwenmann. An das Bild von ihm, das ich mit nach Hause nehmen durfte. Es gibt Menschen, die uns nichts erklären – und trotzdem etwas zeigen, das bleibt.
Freiheit nicht immer etwas Großes oder Lautes. Manchmal ist sie einfach ein Mann, der barfuß mit Möwen spazieren geht – und weiß, dass sie einander morgen wiedersehen werden.
Was bleibt, ist seine Ruhe. Dieses stille Einverständnis mit der Welt, die genau an diesem Ort, seinem Heimatort, eben noch für den kompletten Ausnahmezustand gesorgt hatte. Und die Erkenntnis, dass Freiheit nicht immer etwas Großes oder Lautes ist. Manchmal ist sie einfach ein Mann, der barfuß mit Möwen spazieren geht – und weiß, dass sie einander morgen wiedersehen werden.

Bonus: Zum Anhören
Weil ich einen KI-Kurs besucht und dabei u.a. Notebook LM kennengelernt habe, gibt es ganz experimentell meinen Möwenmann-Text auch im Podcast-Format. Erstaunlich (und ein wenig gruselig, zugegeben), wie gut die KI meine Geschichte hier aufbereitet hat. Bin gespannt, wie es euch gefällt. 🙂
Da ist vieles nochmals lebendig geworden. Sehr gut gemacht.