Stumm erzählen sie Geschichten, die Toten auf Wiens Friedhöfen. Die Kunst ist es, dem zu lauschen, was ohne Worte auskommen muss. Ich kann stundenlang über Friedhöfe spazieren und mir alles mögliche über die Verstorbenen ausdenken. Am liebsten bin ich in den hintersten Winkeln auf den älteren Friedhöfen unterwegs. Dort, wo sich Efeu um die bereits ausgeblichenen Grabsteine rankt. Manchmal erkenne ich noch den Teil eines Namens, manchmal sogar eine Berufsbezeichnung oder liebe letzte Worte. Ich sehe einfache, künstlerische, prunkvolle oder richtiggehend „schreiende“ Grabmäler. Ich gehe vorbei an gepflegten und ungepflegten Ruhestätten. Manchmal ragt die Werbung eines Floristen aus der Erde, manchmal sagt ein aufgemaltes Kreuz: „Auch hier darf ich nicht mehr lange sein.“ Am Friedhof sind zwar alle gleich tot, aber nicht einmal im Tod sind alle gleich.
Schwer zu sagen, was mich an diesen letzten Ruhestätten so fasziniert. Vielleicht ist es die Ruhe. Vielleicht ist es diese friedliche Ko-Existenz von Leben und Tod. Rehe, Hasen und Eichhörnchen tummeln sich zwischen in Reih‘ und Glied angeordneten Gräbern. Vielleicht sind es aber auch die vielen, nicht erzählten Geschichten der Toten.
Namenlos, aber nicht vergessen
Ein ganz besonderer Ort in Wien ist der Friedhof der Namenlosen. Spätestens hier wird deutlich, was ich meine. Wer auf dem kleinen Friedhof im Simmering begraben liegt, ist in der Regel namenlos. So steht es auch auf den Gräbern. Die meisten hier Begrabenen waren ertrunken und an dieser Stelle der Donau angeschwemmt worden. Wer waren die Toten? Woher kamen sie? Wer vermisste sie? Warum mussten sie sterben? Auf solche Fragen denke ich mir unendlich viele Antworten aus, aber ich werde niemals erfahren, wie es wirklich war. Der Faszination, die von diesem Ort ausgeht, kann sich kaum jemand entziehen. Nicht umsonst wird der schon lange aufgelassene Friedhof am Alberner Hafen in vielen Reiseführern als Geheimtipp gehandelt.
Ein Grab fasziniert mich seit jeher besonders. „Sepperl“ steht auf einem eisernen Kreuz inmitten der Namenlosen am Alberner Hafen. Fremde legen Stofftiere, Blumen und Engelsfiguren darauf ab, schmücken es mit bunten Bändern. Dank des wunderbaren Artikels Morbider Charme: Friedhof ohne Namen kenne ich nun einen kleinen Teil der Geschichte von „Sepperl“. Mokant.at hat nämlich Josef Fuchs interviewt, der sich ehrenamtlich um den Friedhof kümmert. Fuchs‘ Großvater hatte den toten Buben einst in einem Schuhkarton am Donauufer gefunden, ihn begraben und ihm diesen Namen gegeben.
Wenn zu Allerheiligen wieder tausende Wiener auf die Friedhöfe pilgern, um ihre Liebsten zu besuchen, wird auch „Sepperl“ und den anderen Toten gedacht. Am 1. November legen Mitglieder des Fischervereins Albern einen Kranz nieder und entlassen zum Andenken an die Namenlosen ein Floß mit Blumen und Kerzen in die Fluten. Über die meisten der Toten ist bis heute nichts bekannt. Aber vergessen, das sind auch sie nicht.
Mehr über den Friedhof der Namenlosen: friedhof-der-namenlosen.at
Alles über Wiens Friedhöfe: friedhoefewien.at
Danke für diese kurze Anleitung zum Thema Wiener Friedhöfe. Ich wollte mehr darüber erfahren, weil es viele besonderen Grabsteine gibt. Dieser Artikel ist ein guter Anfang.