Wenn du nur auf ein Bier gehen wolltest und plötzlich zum Ersthelfer wirst…

Wir sind in einem Lokal Nähe Naschmarkt verabredet. Am Weg dorthin speichere ich noch einen Link zu dem, was gerade in Berlin passiert, ab. Ich möchte etwas zum Zusammenhalt von Menschen in Extremsituationen schreiben. Über den sorgsamen Umgang miteinander, von der ich in einem Tagesspiegel-Artikel lese. Darüber, wie Menschen an diesem schrecklichen Montagabend anderen geholfen haben, wie sie nun zusammen stehen, um gemeinsam zu trauern, das Erlebte zu bewältigen, wie sie scheinbar gerade besonders viel Rücksicht aufeinander nehmen. Und dann komme ich plötzlich selbst in eine Situation, in der jemand auf die Hilfe anderer angewiesen ist. In der wir alle, die uns lediglich der Zufall hierher gebracht hat, zusammen stehen müssen, um das Leben eines Menschen zu retten. Später, als es vorbei ist, wird jeder von uns ein Stück weit vorsichtiger mit dem anderen umgehen. Wir kennen einander nicht, aber das Erlebte verbindet uns nun ein wenig.

Eigentlich waren wir einen Tag früher verabredet gewesen, doch wir haben verschoben. Eigentlich hatte er zwei Lokale vorgeschlagen, nur haben mir beide nicht gefallen. Eigentlich haben wir es uns bereits in dem Lokal, das ich schließlich ausgewählt hatte, gemütlich gemacht, nur ist es dort alles andere als gemütlich. Nach einem Cocktail bezahlen wir und beschließen, die Wienzeile entlang zu laufen, bis wir etwas anderes finden. Er entdeckt ein Ecklokal und schlägt vor, dort noch etwas zu trinken. Es ist nett und gemütlich. Wir genießen unser Bier und plaudern, irgendwann nimmt am Nebentisch ein Paar Platz. Beide um die 50. Dass es ihm schlecht geht, bemerke ich erst, als seine Frau beginnt, den Krawattenknopf zu lockern und sein Hemd zu öffnen. Die Kellnerin bittet einen Gast, die Rettung zu verständigen. Der Mann ringt immer stärker nach Luft und droht das Bewusstsein zu verlieren. Was uns alle vereint in diesem Moment: Wir sind besorgt, aber überfordert. Jeder von uns wollte hier einfach einen netten Abend verbringen, jetzt werden wir auf einmal zu Ersthelfern. Eine Frau übernimmt rasch die Leitung. Ich habe das Gefühl, dass sie am besten von uns allen weiß, was zu tun ist. Später wird sich herausstellen, dass sie als Krankenschwester arbeitet. Und sie wird sagen, dass sie sich von den „Dreinrednern“ nicht hätte irritieren lassen sollen. Ich werde sagen, dass sie einen verdammt guten Job gemacht hat. Sie wird vielleicht mit dem Gefühl nach Hause fahren, dass sie es hätte besser machen können. Ich werde mit dem Gefühl nach Hause fahren, dass ich mehr hätte tun können. Weil man einfach immer denkt, man hätte mehr tun können.

Mich beruhigt es, dass uns jemand sagt, wie wir konkret helfen können. Wir haken den Mann unter und gemeinsam schaffen wir es, ihn auf den Boden zu legen. Er ringt immer aufgeregter nach Luft und sein ganzer Kopf wirkt, als würde er anschwellen. Irgendwann beginnt die Krankenschwester mit der Herzmassage. Sie sagt, sie brauche seine Jacke. Ich finde seine nicht, aber reiche ihr meine. Sie legt sie ihm unter den Kopf. Sie braucht Licht und ein paar von uns aktivieren sogleich die Taschenlampen-Funktion ihrer Smartphones. Sie schreit, jemand solle auf die Straße gehen und der Rettung winken, wenn sie denn endlich eintrifft. Es ist nicht viel Zeit vergangen, aber uns kommt jede Minute vor wie eine Stunde. Der Mann liegt jetzt quer im Gastraum, vor der Bar. Sein Zustand scheint sich von Sekunde zu Sekunde zu verschlechtern. Seine Ehefrau steht hilflos daneben, sie wirkt sehr ruhig, eigentlich zu ruhig. Der Schock, vermute ich. Ich rücke einen Sessel näher zu ihr und deute ihr, Platz zu nehmen. Ich frage sie, ob sie einen Schluck Wasser trinken möchte und streiche ihr über den Rücken. Ich fühle mich hilflos.

Dann gehe ich vor die Türe und trete ein paar Schritte an den Gast heran, der bereits die Rettung verständigt hat. Er hat inzwischen erneut die Nummer gewählt. Ich höre nur Wortfetzen, die mich unsicher werden lassen. Haben die wirklich die richtige Adresse? Hat er ihnen klar gemacht, dass es hier um Leben und Tod geht? Es hat sich nicht so angehört. Ich wähle selbst die 144. Die Rettungsleute sind am Weg, wird mir gesagt. Jetzt bin ich wenigstens sicher, dass sie wirklich kommen werden. Wie schlimm ist die Vorstellung, wir würden hier warten und niemand würde auftauchen. Früher wäre es mir unangenehm gewesen, die Nummer noch einmal zu wählen, jetzt erscheint es mir wichtig und lieber einmal zu viel als zu wenig, heißt es doch immer. Ich gebe sicherheitshalber erneut die genaue Adresse durch. Brabble panisch irgendwas von „keine Luft“ und „vielleicht das Herz“. Ich stehe gemeinsam mit anderen Gästen auf der Straße und als wir wenige Minuten später endlich die Blaulichter sehen, winken wir wie wild. Es ist bitterkalt, aber ich spüre die Kälte kaum. Die Sanitäter steigen aus und ich stammle kurz, dass inzwischen mit Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen wurde.

Drinnen beginnen die Sanitäter mit ihren Maßnahmen. Sie bitten uns, nach hinten zu gehen, um nicht zu stören. Ich frage, ob seine Frau bleiben darf. Sie darf. Dann gehe ich zu den anderen Richtung Küche und verlasse meinen Platz erst wieder, als erneut nach Licht aus der Smartphone-Taschenlampe gefragt wird. Als sie kurz durchschnaufen kann, wendet sich die Krankenschwester an einen Gast, der ständig Dinge sagt wie „Der lebt ja eh noch“, gemütlich aus seinem Weinglas nippt, doof grinst und überhaupt wirkt, als würde er im nächsten Moment die Handykamera auf die Situation richten. Was er nicht für ein unfassbar schlimmer Mensch sei, sagt sie sehr laut. Endlich bittet die Kellnerin den Mann bestimmt, das Lokal zu verlassen. Ich möchte am liebsten applaudieren. Dann konzentriere ich mich wieder auf jene Menschen, die hier unglaublichen Zusammenhalt bewiesen haben. Die Krankenschwester entschuldigt sich dafür, dass sie uns „herumkommandiert“ hat, wie sie meint. Ich sage ihr, dass ich das nicht so empfunden habe und froh gewesen bin, dass sie spontan die Leitung übernommen hat. Dann erkläre ich dem Gast, der vor mir die Rettung gerufen hatte, warum ich die Nummer trotzdem noch einmal gewählt habe.

Irgendwann tragen die Sanitäter den Mann in den Krankenwagen. Es wird ruhig im Raum, eine Frau weint, die Kellnerin tröstet sie. Ich denke an die Ehefrau, der ich in meiner Hilflosigkeit am Ende noch meine Flasche Wasser in die Hand gedrückt habe. Ich nehme den Mantel des Mannes, der inzwischen am Boden neben meinem liegt, hebe das zurückgelassene Beatmungsgerät auf und bringe beides zum Rettungsauto. Ich muss irgendwas tun.

Wir bekommen jeder ein Glas Schnaps in die Hand gedrückt, also bleiben wir noch. Ich bin froh, dass wir das Erlebte wenigstens einen Moment lang gemeinsam aufarbeiten können. Ich nippe an meinem Glas, als ich bemerke, dass der Krankenwagen noch immer mit Blaulicht auf der Straße steht. Ich bin ja nur Laie und habe daher keine Ahnung, ob das etwas bedeutet. In meiner Fantasie bedeutet es aber nichts Gutes. Ich weiß nicht, ob ich in den nächsten Tagen im Lokal anrufen und fragen soll, ob sie etwas über seinen Zustand erfahren haben. Ich hoffe, dass es für seine Ehefrau keine traurigen Weihnachten werden. Aber ich habe ein bisschen Angst davor, zu erfahren, dass es so sein könnte, dann ist es vielleicht besser, es nicht zu wissen.

Meine Begleitung und ich sprechen noch über das Geschehene, während wir langsam zur U-Bahn gehen. Nachdem wir uns verabschiedet haben und ich in der U-Bahn sitze, läuft eine Träne über meine Wange. Ich fühle, dass der Schock sich bemerkbar macht, jetzt, wo ich nicht mehr funktionieren muss. Trotzdem versuche ich, zu lächeln. „Genießt Weihnachten, genießt das Leben, weil: #ausgründen“, schreibe ich etwas kryptisch auf Facebook. Ein paar Freunde liken es. Letztendlich ist es doch auch egal, weshalb ich das schreibe. Es ist einfach so, dass wir jeden Tag genießen sollten, und mir ist das in dieser Nacht eben auf eine sehr brutale Art vor Augen geführt worden.

Ich halte nichts von Neujahrsvorsätzen, aber eines der ersten Dinge, die ich 2017 in Angriff nehmen werde, wird ein Erste-Hilfe-Kurs sein. Mir ist bewusst, dass ich ebenso wie die anderen vieles richtig gemacht habe, aber ich kann nicht immer davon ausgehen, dass in einer solchen Situation zufällig jemand mit medizinischen Kenntnissen anwesend ist. Ich hoffe, dass ich beim nächsten Mal noch besser wissen werde, was zu tun ist. Dass jeder Mensch zu jeder Zeit und an jedem Ort plötzlich Hilfe brauchen kann, habe ich nun einmal mehr erfahren.

Ich würde mich übrigens aufrichtig freuen, wenn dieser Text vielleicht auch den einen oder anderen Leser dazu anregt, den vielleicht schon vor vielen Jahren oder gar Jahrzehnten absolvierten Erste-Hilfe-Kurs aufzufrischen. Und weil ich es heute, am „Tag danach“, wieder live erleben musste: Bildet verdammt nochmal Rettungsgassen. Wenn das Rettungsfahrzeug mit Blaulicht und Sirene heran rast und die Autofahrer erst dann beginnen, Platz zu machen, kostet das unnötig Zeit. Zeit, die jemandem wie dem Mann gestern das Leben kosten kann.

 

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4 Gedanken zu „Wenn du nur auf ein Bier gehen wolltest und plötzlich zum Ersthelfer wirst…“

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