Vom Vermissen

„Vermisst du was?“ ist ja so die übliche Frage, wenn ich mal wieder irgendwas ausgestreut habe. Zuletzt meine Sonnenbrille. Der Finder meiner Brille hat sie dankenswerterweise mitgenommen und wir treffen uns nächste Woche zum Austausch auf ein Bier. Dabei sollten Bier und Plaudern eh wichtiger sein, denn das andere ist nur ein Gegenstand. Soziale Kontakte und so – das ist der Punkt.

Die wichtigere Frage sollte nämlich lauten: „Vermisst du wen?“ Die wird jedoch selten gestellt. Ja, ich vermisse jemanden, genauer gesagt: so einige. Manche davon für immer. „Es gibt Momente im Leben, da steht plötzlich die Zeit still. Da sitzt man schluchzend und kettenrauchend am Balkon, schaut auf die in den Nachtstunden so ruhige Alte Donau und fragt sich: Warum?“ So habe ich vor über einem Jahr einen Blogpost begonnen. Einen Nachruf auf einen lieben Menschen. Nur wenige Monate davor hatte ich bereits einem anderen lieben Menschen ein paar Worte mit auf seinen letzten Weg gegeben. Einem Freund. Nicht nur in meinen Gedanken tauchen beide nach wie vor auf. Auch fast real. Zwischen all den Dateien auf meinem Rechner finde ich immer wieder Fotos der beiden. Da lachen mir die Zwei entgegen, als hätten wir niemals „Lebe wohl“ sagen müssen. Beide sind nach wie vor meine Facebook-Freunde. Ich könnte noch immer ihre Nummern wählen. Aber sie würden nicht abheben.

Manchmal steht man gemeinsam an einer (Lebens-)Weggabelung und entscheidet sich, in unterschiedliche Richtungen weiterzugehen.

Und dann sind da noch die Menschen, die ich einfach anrufen könnte. Die ich vermisse, obwohl sie nicht wirklich weg sind. Die, die gekommen und wieder gegangen sind. Die möglicherweise eines Tages zurückkommen werden – oder auch nicht. Du kannst dir tausende Male sagen, dass es wahrscheinlich nicht an dir liegt, dass du nichts Falsches gesagt oder getan hast, aber letztendlich hat es trotzdem immer mit dir zu tun. Lebenssituationen ändern sich. Viele gründen Familien, da kann man als kinderloser Dauersingle nicht mehr so richtig „mitspielen“. Vielleicht will man es auch nicht, ich weiß es nicht. Interessen ändern sich. Manchmal steht man gemeinsam an einer (Lebens-)Weggabelung und entscheidet sich, in unterschiedliche Richtungen weiterzugehen. Ich stürze mich sicher zu sehr in die Arbeit, einerseits als Selbstständige aus Existenzgründen, andererseits, weil man sich damit wunderbar ablenken kann. Auch oder gerade vom Vermissen. Man entwickelt sich weiter – und manchmal eben in verschiedene Richtungen. Das ist auch gut so. Die alten Freunde aus der Schule und ich hätten einander heute sicher nicht mehr so viel zu sagen wie früher. Die Freunde, mit denen ich während des Studiums praktisch jeden Abend verbracht habe, treffe ich oft nur noch zufällig. Nur wenige sind geblieben. Und zu manchen meiner heute besten Freunde hätte ich noch vor Jahren wahrscheinlich gar keinen Draht gefunden – und umgekehrt. Alles hat seine Zeit.

Der Unterschied: Die einen sind für immer gegangen, die anderen möglicherweise nicht.

Ist man aber erst einmal „verdrahtet“, also eng verbunden, gleicht die Einsicht, dass es nicht mehr so ist, einem Schlag ins Gesicht. Anfangs bemühst du es noch, vielleicht nicht intensiv genug. Es könnte ja immer die Antwort kommen: „Irgendwie passt es nicht mehr…“ Die willst du natürlich nicht hören, denn die tut weh. „Schluss machen“ unter Freunden. Jede Trennung von einem Partner, so weh sie anfangs auch getan hat, war dagegen ein Lercherlschaß. Wenn ICH aufhöre, den Kontakt zu Menschen zu suchen, weiß ich, warum: Weil mir die Person nicht wichtig genug ist. Warum sollte es umgekehrt anders sein? Warum sollte jemand, dem ich anscheinend nicht wichtig genug bin, noch Interesse an meinem Leben haben? Oder denkt diese Person in Wirklichkeit auch oft an mich und meldet sich aus ähnlichen Gründen nicht bei mir?

Jemanden vermissen kann man nur, wenn man sich zuvor auf etwas eingelassen hat. Das fällt manchen leicht, mir fällt es schwer. Manchmal nehme ich mir sogar vor, den anderen eh gar nicht so sehr zu mögen, um genau das zu verhindern – und dann passiert es doch. Dann bist du plötzlich emotional mit jemandem verbunden, was dich am Ende mehr verletzen kann als alles andere im Leben. Und weil auf Trauer bekanntlich Wut folgt und Wut nicht gut tut, kannst du nur versuchen, damit umzugehen. Aber ehrlich: Sich emotional nicht mehr auf Menschen einzulassen, das ist wahrscheinlich die dümmste Idee überhaupt. Dann endest du irgendwann als einsamer Mensch. Wie mein Nachbar, dem alle Menschen z’wider sind. Also sagst du zu manchen leise „Lebe wohl“ und hoffst insgeheim weiterhin, dass sich eure Wege eines Tages wieder kreuzen werden. Oder du akzeptierst einfach, dass es ist, wie es ist und machst weiter. Denn eines ist klar: Weder die Menschen, die für immer und ewig aus meinem Leben verschwunden sind, möchte ich missen. Noch die, die (für welchen Zeitraum auch immer) einen Teil des Weges mit mir gegangen sind. Nur mit dem Unterschied, dass die erste Gruppe nie mehr wieder kommen wird.

Kahlenberg web _ c Sabine Karrer

 

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