Traiskirchen again – darf man eigentlich noch hoffen?

Mir geht diese junge Frau nicht aus dem Kopf, die ich gestern getroffen habe. Wir stehen vor dem Flüchtlingslager Traiskirchen, reden ein bisschen, ihr Bruder übersetzt. Beide stammen aus Syrien, erzählt er. Er ist vor zweieinhalb Jahren nach Österreich gekommen, lebt in Linz. Von dort aus ist er an diesem Tag ungefähr eineinhalb Stunden nach Niederösterreich gefahren, um seine Schwester und ihre Kinder zu besuchen. Sie sind erst vor fünf Tagen in Traiskirchen angekommen. Drei Monate waren sie zuvor auf der Flucht. Am schlimmsten, sagt die Frau, sei es in der Türkei und in Ungarn gewesen.

So wie die meisten von uns habe auch ich keine Ahnung davon, was Krieg wirklich bedeutet. Auch, wenn das einige noch so lautstark behaupten. „Uns hat damals auch keiner geholfen“, brüllen sie. Erstens: „Uns“? Ernsthaft? Zweitens: Doch, eben, uns wurde geholfen, wenn wir schon beim „uns“ bleiben wollen. „Warum kommen nur die jungen Männer nach Österreich und lassen ihre Familien im Stich?“, lautet auch so eine beliebte Aussage zum Thema Asyl. Meine 90 Jahre alte Nachbarin, eine der wenigen noch lebenden Menschen in meinem Umfeld, die den Zweiten Weltkrieg selbst miterlebt haben, sagt dazu nur: „Unsere ganze Familie hat damals auch zusammengelegt, damit einer von uns in die USA flüchten kann. Und zwar der Jüngste und Stärkste.“ Logisch eigentlich.

Allen selbsternannten „Asylkritikern“, wie sie sich so gerne nennen, sei folgendes Video von Tobias Huch ans Herz gelegt: Das IST Krieg und das sind EURE Hasspostings.

50! tote! Menschen!

Update 28.8.: Mittlerweile ist sogar die Rede von mindestens 70!! toten!! Menschen!!

„Stell dir vor, du flüchtest vor dem Krieg, bist monatelang unterwegs – und endest tot in einem LKW“, twittere ich. Heute ist der Tod so offensichtlich wie selten zuvor auch in Österreich angekommen. Bis zu 50! tote! Flüchtlinge wurden in einem LKW auf Autobahn A4 im Burgenland entdeckt. Und was passiert? Die einen schreien schon wieder nach (noch) höheren Grenzzäunen. Es sind nicht nur jene, von denen ich es erwartet hätte, das schockiert mich besonders. Leute!! Wer seine Heimat verlassen muss, weil neben ihm die Bomben einschlagen, weil dort geschossen und gemordet wird (sehr häufig mit Waffen aus Europa und den USA übrigens), weil er bedroht und verfolgt wird, weil Frauen und Kinder vergewaltigt werden, weil es in seinem Land absolut keine Zukunft mehr für ihn gibt, wird auch weiterhin flüchten. Es wird nur noch gefährlicher. Ja, Schlepper, die zulassen, dass in ihren Schlepperfahrzeugen Menschen sterben, sind scheiße. Keine Frage. Aber es wird sie weiterhin geben, so lange wir aus Europa eine Festung machen. Es werden sogar noch mehr werden, denke ich, und die Umstände, unter denen Menschen flüchten müssen, werden noch schlimmer werden. Der Journalist Martin Thür erzählt übrigens hier auf Facebook sehr gut, warum das so ist.

15 Jahre jung und alleine auf der Flucht

In Traiskirchen lernen wir gestern auch den 15-jährigen Qasim kennen. Er kommt aus Afghanistan und ist nun ganz alleine in Österreich. Er ist sehr ruhig, aber augenscheinlich froh darüber, dass sich jemand für ihn interessiert. Dank dem „Google Translator“ funktioniert die Verständigung einigermaßen. Qasim spricht Farsi. In seiner Hand hält er eine Plastikfolie mit ein paar Zetteln darin. Mit einem davon darf er wieder zurück ins Lager, den darf er nicht verlieren, auf einem anderen Papier hat er die wichtigsten Begriffe in Farsi und in der deutschen Übersetzung notiert. Auch seine ID-Karte steckt in der Folie. Qasim ist einer von sehr vielen Jugendlichen, die mutterseelenallein in einem völlig fremden Land gestrandet sind. Um die sich, wie man hört, im Erstaufnahmezentrum nicht wirklich jemand schert. Überhaupt scheint es dort eher egal zu sein, was mit den Menschen passiert. Ein junger Österreicher namens Markus hat sich dankenswerterweise in das Lager eingeschleust und gefilmt, jetzt erzählt er, wie er die Situation dort erlebt hat.

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Als wir an diesem Mittwochnachmittag aus dem Auto aussteigen, ist einiges nicht so wie in der Woche davor. Schon die Anreise zum Lager ist umständlicher, es gibt eine Umleitung. Wir dürfen nicht überall parken, wo es beim letzten Mal noch erlaubt war. Ich habe das Gefühl, auf meiner Seite des Gitters mehr Menschen zu sehen als kürzlich. Einige Leute dürften neu angekommen sein, die meisten suchen Schutz in dem wenigen Schatten vor dem Lager. Qasim hockt am Weg vor der Mauer, neben ihm zwei weitere junge Männer. Michi und Dennis hocken sich dazu. Es ist brennheiß. Vor einem provisorisch errichteten Stand hat sich eine Schlange gebildet. Es wird Essen ausgegeben. Ob sie auch etwas haben möchte, fragt ein Mann Helga freundlich. Es riecht herrlich, aber sie will den Menschen nichts wegessen, wir haben doch alles. Verständlich. „Wie geht es dir?“, fragt immer wieder jemand. Selbst, wenn es noch so oberflächlich gemeint sein sollte, beschämt es mich. Wie soll es mir schon gehen? Ich musste weder vor Krieg und Terror fliehen, noch muss ich jetzt in diesem Lager bleiben.

Dort, wo noch bei unserem letzten Besuch unzählige Zelte aufgebaut waren, herrscht heute weitgehende Leere. Vereinzelt rotten sich Grüppchen unter den wenigen schattenspendenden Bäumen zusammen. Viele Flüchtlinge wurden in ein anderes Lager gebracht, die meisten wahrscheinlich in das neue Containerlager in Schwechat beziehungsweise wurde auch hinter der sogenannten Sicherheitsakademie (SIAK) am Gelände ein Zeltlager errichtet. Die Zelte wurden abgebaut und vermutlich entsorgt, dieses Gerücht kursiert gerade in den sozialen Medien – beobachtet und mit Bildern dokumentiert. „Die gehören doch ihnen, die wurden ihnen geschenkt“, ärgere ich mich. Ich möchte, dass noch brauchbare Zelte gesammelt und nach Bedarf wieder ausgegeben werden, das wünsche ich mir, das erwarte ich. Es wurden nicht innerhalb weniger Tage plötzlich viele neue, so dringend benötigte Quartiere geschaffen – es werden neue Geflüchtete ankommen. Sie werden kaum alle innerhalb des Gebäudes Platz finden. Gut, das Innenministerium dementiert, dass Zelte weggeworfen wurden. Ich lasse das mal so stehen, von anderer Seite wurde anderes beobachtet.

Ich bin mir sicher, dass sich noch nicht einmal über eine tausend Euro teure Louis-Vuitton jemals jemand so gefreut hat.

Eine Frau aus Pakistan freut sich riesig über zwei Paar gebrauchte Schuhe. Ob ich eine Tasche habe, fragt sie. Mein Blick fällt auf eine große Damenhandtasche, die mir eine Freundin mitgegeben hat. „Sowas braucht hier sicher niemand“, habe ich mir noch gedacht. Zögerlich zeige ich sie der Frau und murmle gleichzeitig, ob sie nicht lieber einen großen Plastiksack haben möchte. Sie nimmt die Tasche und ihre Augen strahlen. Ich bin mir sicher, dass sich noch nicht einmal über eine tausend Euro teure Louis-Vuitton jemals jemand so gefreut hat.

Manchmal trifft einen die Realität wie ein Faustschlag

Als wir zurück fahren, ist es eigenartig still im Auto. Viele Eindrücke müssen verarbeitet werden. „Geht es euch eh gut?“, frage ich mehrmals und komme mir dabei schon ein bisschen blöd vor. Aber ich kenne das alles schon, für die drei anderen war es das erste Mal. Manchmal trifft einen die Realität wie ein Faustschlag – in Traiskirchen jedenfalls ist es so.

Es ist wichtig, den Menschen das Gefühl zu geben, willkommen zu sein, ihnen zuzuhören, wenn sie reden wollen, sich selbst einen Eindruck von der Situation in Traiskirchen zu verschaffen und anderen davon zu erzählen.

Immer wieder habe ich mich auf der Hinfahrt gefragt, ob es eigentlich sinnvoll ist, dass so viele Menschen mehr oder weniger häufig nach Traiskirchen fahren, um Sachen zu bringen. Wenn ich jene ausnehme, die Haufen von Kleidung einfach irgendwo ausschütten und weiterfahren (das mag auch nett gemeint sein, aber ein wenig Zeit sollte man schon einplanen und seine eigenen Abfälle ebenso wie vielleicht übergebliebenes Zeug wieder mitnehmen – es gibt praktisch keine Mistkübel) und auch jene, die bei der Sammelstelle der Caritas High Heels in Knallpink abgeben (ja, das gibt es), dann ist es meiner Meinung nach schon sinnvoll. Zu diesem Schluss komme ich. Es ist wichtig, den Menschen das Gefühl zu geben, willkommen zu sein, ihnen zuzuhören, wenn sie reden wollen, sich selbst einen Eindruck von der Situation in Traiskirchen zu verschaffen und anderen davon zu erzählen. Und ich denke, auch jene, die nicht selbst fahren können oder wollen, sind wichtig. Manche beginnen zum Beispiel, unter Freunden, Bekannten oder auch unter den Gästen in ihrem Wirtshaus zu sammeln. Das Thema ist präsent und berührt auch Menschen, die sich bis dahin nicht oder wenig damit beschäftigt haben. Andere nutzen sogar eine ganz normale Hausversammlung, um an die Hilfsbereitschaft ihrer Mitbewohner zu appellieren (du weißt, dass du gemeint bist ;)) – und finden vor ihrer Türe plötzlich einen ganzen Sack voller Baby- und Kindergewand für Traiskirchen. „Scheinbar ist es ansteckend, wenn man selbst hilft, plötzlich helfen andere auch“, schreibe ich vor Kurzem auf Twitter. Jemand antwortet mit einem schlichten „nein“. Ich ignoriere es. Denn es IST ansteckend, das merke ich. Und das macht verdammt nochmal Hoffnung.

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Asyl ist ein Menschenrecht, verdammt nochmal!

tk1 _ c sabine karrerHeute lese ich, dass in Traiskirchen anscheinend Zettel des „Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl“ verteilt werden. „Sie befinden sich illegal in Österreich… Sie werden daher seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl darüber informiert, dass Sie das Bundesgebiet unverzüglich und freiwillig zu verlassen haben… Bei Nichtbeachtung können fremdenpolizeiliche Maßnahmen gegen Sie gesetzt werden“, steht da. Meine Bekannte, die ein Foto davon zeigt, erzählt von zumindest einer Familie, die – sehr eingeschüchtert – ein Ticket nach Brüssel gekauft und sich auf den Weg gemacht hat. „Die Menschen müssen wissen, dass sie ein Recht auf Asyl haben“, sagt sie. Asyl ist ein verdammtes Menschenrecht. „Die Leute fragen nicht in Europa um Asyl, weil sie sich ein schöneres Leben wünschen, sie wollen nur nicht sterben“, zitiert Profil eine Frau, die mit ihrer Familie aus Damaskus nach Wien geflüchtet ist.

Die Lösung kann sicher nicht lauten: Bauen wir die Zäune noch höher.

Ich hoffe, dass sich Menschen wie Qasim nicht einschüchtern lassen. Ich bin mir nicht sicher. Ich hoffe, dass die Frau aus Syrien mit ihren Kindern bei ihrem Bruder bleiben kann. Ich hoffe, dass Österreich und Europa endlich eine gute, würdige Lösung für all diese Menschen finden – und die kann jedenfalls nicht daraus bestehen, die Zäune noch höher zu bauen.

Fotos: Michi, Sabine

 

 

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Ein Gedanke zu „Traiskirchen again – darf man eigentlich noch hoffen?“

  1. Wunderbare, nachvollziehbare Erzählung. Danke dafür! Mögen dadurch auch andere „angesteckt“ werden, selbst nach Traiskirchen (oder in eine andere Einrichtung) zu fahren, um den Menschen ein Willkommensgefühl und Hoffnung auf Zukunft zu geben!

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