Mein Freund M.

Nach einem richtig netten Abend bin ich nachhause gekommen und auf Twitter über diesen sehr persönlichen Beitrag von Saskia Jungnikl auf der standard.at gestoßen. Es geht um ihren Vater und seinen Freitod. Und das Tabu, das dieses Thema bis heute für viele darstellt.

Der Text hat mich gerade zum Weinen gebracht. Und er hat mich an etwas erinnert, das ich vor vielen Jahren erlebt und über das ich Jahre später (und lange vor dem heutigen Tag) geschrieben habe: Mein Freund M.

Ich kann und will mir nicht ausmalen, wie es ist, wenn es den eigenen Vater trifft. Ich kann mich noch heute, ungefähr zehn Jahre „danach“ erinnern, wie schlimm es damals war, als sich mein Freund M. für den Freitod entschieden hat. Die anfängliche (Mit-)Schuldfrage. Der Freundeskreis, der am Unaussprechlichen teilweise zerbrochen ist. Die vielen Menschen, die einen nicht weinen sehen können. Die Tatsache, dass M. bis heute fehlt.

Und ich stelle das hier auch diesem Blogpost voran (via derstandard.at):

Rat und Hilfe im Krisenfall bietet die Psychiatrische Soforthilfe. Unter dieser Nummer erhalten Sie qualifizierte und rasche Hilfestellung rund um die Uhr: 01/313 30 (täglich 0-24 Uhr)

Kriseninterventionszentrum 01/406 95 95 (Mo-Fr 10-17 Uhr) 

Rat und Hilfe bei Suizidgefahr 0810/977 155

Sozialpsychiatrischer Notdienst 01/310 87 79 oder 01/310 87 80

Österreichweite Telefonseelsorge (rund um die Uhr, kostenlos) 142

 

Jetzt dürft ihr lesen, wenn ihr wollt:

 

Mein Freund M.

Es ist jedes Jahr das Geiche: Ich finde jemanden, der mit mir zum Zentralfriedhof fährt. Ich verlaufe mich zwischen den Urnengräbern, bin nah am Verzweifeln, finde es aber doch immer wieder, wenn auch nicht auf Anhieb. Ich setze mich davor, rauche eine Zigarette und führe ein für andere vielleicht seltsam anmutendes Gespräch. Mit M. Ein Mensch, der weit länger aus meinem Leben verschwunden ist, als ich ihn überhaupt kannte. Jemand, der trotzdem weit präsenter in meinem Leben geblieben ist, als es manch andere je könnten.

Ich war nie verliebt in M. Eigentlich weiß ich nicht mal, wieso ich es nie war. Er sah gut aus, war lustig, offen, sympathisch. Ich mochte ihn als Menschen. Einfach für das, was er war. Wir hatten einen tollen Sommer – und als der zu Ende war, war es auch sein Leben. Zerschmettert in vielen Metern Tiefe. Das Warum konnte niemand verstehen. Depressionen sollen es gewesen sein. Ein Grund, ja. Aber keiner, der das Verstehen einfacher macht.

Als es passiert ist, hatte ich gerade einen netten Abend mit Freunden. Aber als ich “es” am nächsten Tag erfahren habe, war der tolle Sommer schlagartig zu Ende. Als M. den Kampf eine Woche später endgültig verloren hatte, hat das ein tiefes Loch in mein Leben und in das vieler anderer gerissen. Allen voran in das seiner Familie.

M. war in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Die meisten Menschen hätten meine Person damals mehr hinterfragt. Er hat mich so genommen, wie ich war. Dass er sich selbst nicht einfach so annehmen konnte, hatte ich nicht geahnt. Menschen wie M. sind selten. Ich kenne nur wenige. Wenn er mir etwas hinterlassen hat, dann mit Sicherheit das, dass ich seitdem umso mehr versuche, einfach ich zu sein. Let it be. Dass ich das Leben gierig einsauge, weil es zu wertvoll ist. Dass ich versuche, da zu sein, auch wenn ich nicht immer weiß, ob ich genau genug hinhöre.

Und ich werde Coldplays “In my Place” nie ganz unbedarft hören können. M.s Freunde haben sich damit von ihm verabschiedet. Aber ich höre es gerne. Es erinnert mich an eine schöne Zeit und einen außergewöhnlichen Menschen. Und an das Ende eines Sommers, an dem ich wohl ein bisschen erwachsener geworden bin. Auch wenn ich damals lieber einfach aufgewacht wäre…

Vielleicht warte ich heuer nicht bis August…

c privat

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2 Gedanken zu „Mein Freund M.“

  1. So ein Verlust tut weh und hinterlässt immer Narben, die auch Jahre später schmerzen und gerade eben auch die Frage nach dem Warum. Eine Antwort könnte nur der geben, der sich gegen das Leben entschieden hat.

    Gerade Depressionen sind für den Betroffenen schon schwer zu erfassen. Wenn man es dann erkannt hat, ist es unendlich peinlich, weil die Gesellschaft doch meist mit Vorurteilen bewaffnet ist. Man soll sich nicht so anstellen, ist doch alles nicht so schlimm, ALLES WIRD GUT.

    Alles was helfen könnte, ist die Erkenntnis das man krank ist und ein kleiner Funke es ändern zu wollen. Aber es anderen zu erklären, die quasi nie etwas mit der Thematik zu tun hatten ist nahezu unmöglich.

    Ich wünsch dir das deine Narben kleiner werden und du weiter das Leben genießt und (so blöd es sich auch liest) dir vielleicht denkst, dass er jetzt glücklich ist und vor nichts mehr Angst hat.

    1. Danke, die Narben sind schon unendlich viel kleiner geworden. Aber natürlich verändert sowas einen. Er ist seinen Weg gegangen, ich gehe meinen weiter – eigentlich ist es so einfach. Theoretisch.
      Mit der Gesellschaft hast du vollkommen Recht. Jemandem zu erklären, dass man mit Grippe im Bett liegt, ist einfach. Jemandem zu erklären, dass man nicht weiß, wie man den Tag überstehen soll, ist schon schwieriger. Aber es ist immer wieder erstaunlich, wie offen Menschen plötzlich drüber reden, wenn man selbst offen mit dem Thema umgeht.
      Im derstandard.at-Forum, wo der Artikel über den Freitod des Vaters von Saskia veröffentlicht wurde, hat übrigens jemand etwasgedchrieben, das ich mir gut vorstellen kann: Ein Mann, der einen Suizid-Versuch überlebt hat, meinte machher, er hätte so viele Probleme, Schulden, usw. gehabt. Das sei der Grund gewesen. Aber in dem Moment, als er gesprungen war, wäre ihm klar geworden, dass er alle Probleme lösen könnte. Nur nicht mehr das, dass er gerade gesprungen ist. Sollte zu denken geben…

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