Wenn Idealismus erwachsen wird

„Ich habe nur das Gefühl, dass du irgendwann an deinem Idealismus zerbrichst“, sagt er. Ich will nicken und schreien: „Ja, verdammt, genau das ist mein Problem!“ Stattdessen schweige ich. Der Kloß in meinem Hals wächst. Gib dir jetzt keine Blöße, denke ich und kämpfe tapfer gegen die aufsteigenden Tränen an. Er steigt in die U-Bahn und ich gehe stumm den Bahnsteig entlang. Ich drehe mich nicht mehr um.

Wenn ich in etwas nicht gut bin, dann darin, Schwäche zu zeigen. Ich bin grantig, wütend, zornig, aufbrausend, widerspenstig, kämpferisch, zurückgezogen, ernst oder still, aber ansonsten lasse ich die Hüllen emotional nicht gerne fallen. Ich will nicht die Zerbrechliche oder Mühsame sein, ich will die Starke und Lustige sein, die alles alleine schafft und niemanden braucht, auch wenn sie gerne Menschen um sich hat. Jetzt aber bin ich genau das: traurig, zerbrechlich, mühsam und unendlich erschöpft. Niemand, mit dem man einen tollen Abend verbringen kann, sondern jemand, den ich selbst so wenig mag, dass mich jemand anderer doch schon gar nicht mögen kann.

Im Grunde hat er an diesem Abend nichts anderes getan, als den Finger in die Wunde zu legen

Er hat ja recht, denke ich. Und schreibe ihm das einen Tag später. Im Grunde hat er an diesem Abend nichts anderes getan, als den Finger in die Wunde zu legen, die schon so lange da und noch immer nicht verheilt ist. Am Idealismus zerbrechen. Ausgerechnet an dem, was ich mir vor langer Zeit auf die Fahnen geschrieben habe. Ich stehe für meine Überzeugungen ein und mache, was ich für richtig halte. Von meinem Traum, Journalistin zu werden, konnten mich diverse Berufs- und Studienberater schon vor 20 Jahren nicht abhalten. Nun schreibe ich mit 37 noch immer für Honorare, die damals als Studentin nett waren, aber mir heute meine Rechnungen nicht bezahlen. Selten ist mehr drinnen, also frage ich meistens gar nicht nach einem höheren Honorar, weil ich sonst vernünftigerweise sagen müsste: Nein danke, dann müssen wir getrennte Wege gehen. Vermutlich spielt auch hier mein Idealismus eine große Rolle. Wo sonst sollte ich Themen veröffentlichen, die mir wichtig sind? Die ich dann mit diversen PR-Jobs „quersubventioniere“, wie viele von uns das gerne nennen. Weil es anders fast nicht möglich ist. Dabei sind diese Geschichten gar nicht schlecht, im Gegenteil. Ich finde immer mehr Gefallen daran, weil ich diese für mehr als nur ein Taschengeld schreiben kann. Weil ich dadurch endlich nicht mehr Abend für Abend und Wochenende für Wochenende sitzen muss, um wenigstens auf das Geld zu kommen, von dem ich mir hier und da ein Bier, ein Essen, einen Kinobesuch und sogar den einen oder anderen Urlaub leisten kann.

Wo verläuft die Grenze zwischen Idealismus und dem schönen Leben?

Einfach ist das nicht, aber er hat das an diesem Abend auf den Punkt gebracht: Ansonsten zerbreche ich eines Tages. Die Frage ist nur: Wo verläuft die Grenze zwischen Idealismus und dem schönen Leben? Wie egal können mir Dinge sein, die um mich herum passieren, nur damit ich es leichter habe? Dann sitze ich wieder mit Kollegen zusammen und denke, dass wir gemeinsam schon etwas schaffen können. Dass wir es wenigstens versuchen müssen. Aber wie viel Energie haben wir alle noch, wenn wir für journalistische Aufträge oft weniger bezahlt bekommen als zum Beispiel fürs Flyer-Verteilen? Ich frage eine Kollegin, warum sie schon so lange macht, was sie macht. „Weil ich so Geschichten schreiben kann, die ich gut und wichtig finde. Weil da mein Herzblut drinnen steckt“, sagt sie. Dass das nicht besonders schlau ist, wissen wir ohnehin alle.

Würden wirklich alle zusammenhalten, könnten wir ganz viel bewegen. Würden. Würde jeder Österreicher wenigstens einen kleinen Beitrag für Menschen, denen es schlechter geht, leisten, hätten auch alle was davon. Aber dazu müsste man etwas hergeben, zeitlich, finanziell, und am Ende stehen sich die meisten eben doch selbst am nächsten. Möglicherweise ärgert es mich fast weniger, dass andere so denken, als vielmehr, dass ich selbst noch nie so denken konnte.

Leiden durch den Zufall des Geburtstorts. Glück durch den Zufall des Geburtstorts. Beides liegt so nahe nebeneinander.

Ich bin nicht die große Weltretterin, für die er mich manchmal zu halten scheint. Dazu müsste ich viel, viel mehr tun. Aber meinen kleinen Beitrag will ich leisten. Mit Argumenten, die zugegeben schlechter werden, je emotionaler ich bin. Mit ganz kleinen Dingen im Alltag. Mit offenen Ohren, Augen und jeder Menge Neugierde. Indem ich mir Geschichten von anderen anhöre. Indem ich mich für Menschen interessiere, die nicht oder gerade einmal das Notwendigste haben. Zum Beispiel auch für Menschen, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, weil ich diesen Schritt verstehe und viele aufrichtig dafür bewundere, was sie auf sich nehmen, um ihre zweite Chance zu nutzen. Weil ich nicht weiß, wie man sowas überhaupt schafft. Ich will nicht immer betonen müssen, dass es auch die anderen gibt, es genügt doch, dass wir das wissen. Ich erzähle lieber positive Geschichten, weil die viel zu selten erzählt werden. Wenn jemand meint, wir könnten ja nicht alle aufnehmen, sehe ich gleichzeitig die einzelnen Schicksale an der Schwelle zur Festung Europa. Die von Menschen, die lediglich das Pech hatten, in einem Land geboren worden zu sein, in dem Krieg ausgebrochen ist. In dem eine korrupte Regierung an der Macht ist. In dem die Wirtschaft einfach komplett am Boden liegt. Oder in dem sich der Klimawandel einfach sehr drastisch auswirkt. Leiden durch den Zufall des Geburtstorts. Glück durch den Zufall des Geburtstorts. Beides liegt so nahe nebeneinander. Richterin will ich aber auch nicht sein. Das kann man gerne feige nennen, aber feige ist mir immer noch lieber als naiv. Und noch tausendmal lieber als jeder Vorwurf, nur weil ich versuche, das Richtige zu tun.

Natürlich macht es ohnmächtig, dass ich nicht sämtliche Ungerechtigkeiten mit einem Fingerschnippen beenden kann. Er findet mein Engagement ja gut und interessant, meint er später. Obwohl oder vielleicht auch gerade deswegen, weil wir in zumindest in diesem Punkt in recht unterschiedlichen Welten zu leben scheinen. Ich finde seine Welt auch spannend. Jede Welt. Jede Geschichte. Jede Lebensrealität.

Als ich meine Wohnungstüre hinter mir zu ziehe, kullern die Tränen so ungeniert wie heftig hinunter. „Du zerbrichst an deinem Idealismus“, höre ich seine Worte nachhallen. Laut, ungebremst, schmerzhaft. Und bin doch alleine mit meinen Gedanken. Alleine mit einem Leidensdruck, der inzwischen stark genug geworden ist, um ernsthaft eine Veränderung herbeizuführen. Schwäche zeigen und daraus Stärke entwickeln, indem man an ein paar Schrauben dreht und die Grenze neu zieht. Nach Tagen des Nachdenkens bin ich fast sicher, dass das möglich ist. Das klingt beinahe schon wieder idealistisch, oder?

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4 Gedanken zu „Wenn Idealismus erwachsen wird“

  1. Liebe Sabine! Bitte stehe zu Deinen Idealen. Sie sind ein Maßstab, der leider nicht immer erreicht oder gelebt werden kann. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie deshalb keine Berechtigung haben. Sei Dir bewusst, dass (hoffentlich) viele, viele andere auch genau so ticken wie Du – ich auf jeden Fall. Bedauere alle, die Ideale anzweifeln oder in Frage stellen. Die Xenophoben sind nicht selten nur arme verwundete Seelen, die sich selbst bekämpfen. LG Norbert

    1. Lieber Norbert! Keine Sorge, ich stehe schon weiter zu meinen Idealen, ich kann eh nicht anders. 😉 Ich muss nur einen Weg finden, der mich nicht komplett zermürbt. Das betrifft das Berufliche erst einmal mehr als alles andere – und das andere, da muss ich halt schauen, wie ich damit umgehe. Bzw. habe da schon dazu gelernt, sprich ich merke, ob sich z.B. eine Diskussion (in sozialen Medien) lohnt oder nicht. Am Ende muss halt mein Energielevel passen, sonst geht gar nichts mehr und davon hab ich auch nichts. Zum Glück ticken viele ähnlich wie ich, was Ideale betrifft, das vergesse ich nur manchmal. LG Sabine

      1. In Social Media hat es keinen Sinn (ist ja schon Aug in Aug schwierig) – das habe ich oft leidvoll erlebt. Außerdem wird man schnell zum Troll.

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