Herr Alfred und die Zeit im Bild

Herr Alfred, mein höllischer Nachbar, bereitet mir Sorgen. Vor zehn Jahren bin ich in die Wohnung über ihm eingezogen. Seit zehn Jahren habe ich kaum eine Zeit im Bild unkommentiert schauen können. Es beginnt schon mit der ZiB um 9 Uhr, es geht weiter mit der ZiB um 17 Uhr, es folgen ZiB1 und ZiB2. Danach geht Herr Alfred irgendwann ins Bett, vermutlich erschöpft. Bei der ZiB24 fehlen mir seine Kommentare zum Weltgeschehen dann fast ein wenig, denn die sind immer sehr aufschlussreich. „Olle deppat!“, Ois Oaschlecha!“ Oft schalte ich meinen eigenen Fernseher ein, sobald ich Herrn Alfreds Stimme durch den Fußboden höre. Es ist ein bisschen wie beim Blutabnehmen. Ich will Blut nicht sehen müssen, aber wenn ich nicht sehe, was passiert, fühle ich mich unwohl. Also sehe ich die Bilder zu Herrn Alfreds lautstarken Erklärungsversuchen der Innen- und Außenpolitik, manchmal drehe ich sogar den Ton ab, weil er dabei doch nur stört. Und täglich grüßt das Murmeltier.

Herrn Alfreds – sagen wir mal sehr kreative – Gesellschaftskritik holt mich quasi aus meiner Filterblase. Seit einem Jahrzehnt lässt er mich an den Gedanken eines sogenannten Besorgtbürgers Teil haben. Das muss man schon ernst nehmen und ehrlich: Wer interessiert sich schon aus freien Stücken für die Anliegen eines pensionierten, fremdenfeindlichen Cholerikers? Danke, Herr Alfred, für alles.

Herrn Alfreds Lebensmut schwindet

Aber jetzt scheint Herr Alfred allmählich seinen Lebensmut zu verlieren. Seit Tagen höre ich ihn fast nur noch mit einem für seine Verhältnisse sanften Stimmchen reden. Naja, es ist in Wirklichkeit schon ein Brüllen, aber ein moderates Brüllen. Hat sich Herr Alfred aufgegeben? Hat er gar die Zeit im Bild aufgegeben?

Erst heute Früh habe ich den wahrscheinlich größten ZiB-Fan aller Zeiten beinahe umgerannt, als ich fröhlich aus dem Aufzug gesprungen bin. „Grüß Gott!“, habe ich ihm entgegen gebrüllt. Ich denke, er fühlt sich nicht wohl, wenn man normal mit ihm spricht. Dann bin ich stutzig geworden. Ich habe auf meine Uhr geschaut. 9:10 Uhr. Und Herr Alfred trägt lieber Einkäufe nach Hause, anstatt von seiner Couch aus seinem Hobby nachzugehen. „Herr Alfred, was ist los? Geht es Ihnen nicht gut?“ Sorgenvolle Fragen sind mir auf der Zunge gelegen. Ich habe mich schon dabei gesehen, wie ich Herrn Alfred einen Kuchen backe und ihm tröstende Worte spende. Wie ich Frau Alfred beruhige, weil sich ihr Ehemann seltsam verhält.

Selbstverständlich bin ich stattdessen weitergegangen. Kopfschüttelnd und nachdenklich. Vielleicht, habe ich überlegt, hat jemand heimlich Familie Alfreds Kabelanschluss gekappt. Vielleicht hat das Leben seines alten Röhrenfernsehers (in meiner Fantasie ist es jedenfalls einer) abrupt geendet. Vielleicht findet sich nie wieder jemand, der Herrn Alfred einen Kabelanschluss oder ein Fernsehgerät verkauft. Aber vielleicht ist Herr Alfred auch enttäuscht. Sicher hätte er sich nach all den Jahrzehnten des ZiB-Anschauens und -Kommentierens etwas Anerkennung gewünscht. Liebe ZiB-Redaktion, kann man da nicht was machen? Ich will meinen Herrn Alfred wieder zurück, ich fühle mich orientierungslos.

 

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