Freud‘ und Leid, ein unzertrennliches Paar

Uns Wienern wird ja gerne ein gewisser Hang zum Morbiden unterstellt. Das mag durchaus stimmen, sofern es um die Theorie geht. Hunderte oder vielleicht sogar tausende Buchtitel zeugen davon. Auch ich bin bekennender Fan etwa des Kriminalmuseums im zweiten Bezirk, düsterer Bücher und Filme, ich besuche gerne Friedhöfe, mache Stadtspaziergänge und lasse mir dabei erzählen, welche Tragödien sich in manchen – bis heute erhaltenen – Gebäuden meiner Stadt abgespielt haben (zum Beispiel die Morde an jungen Frauen durch Gräfin Bathory in der Blutgasse). Die Faszination am Grausamen.

Als ich an der Uni Wien studiert habe, hatte es mir die Gerichtsmedizin angetan. Meine Fächer sind weder Medizin noch Jus gewesen, wofür ich dieses Fach gebraucht hätte. Aber ich durfte im Hörsaal sitzen, zuhören, zuschauen, später die Prüfung ablegen. Der Torso eines Mannes, der in eine Schiffsschraube geraten war, ist schon damals nicht „mein erster Toter“ gewesen, aber so etwas hatte ich nie zuvor gesehen. Versteht das nicht falsch, die Lehrveranstaltung ist sehr pietätvoll abgelaufen. Sensationsgier ist dort absolut fehl am Platz gewesen, darauf hat unser Professor stets geachtet. „Denkt daran, dass das auch euer Vater oder Großvater sein könnte“, hat er zum Beispiel einmal gesagt, während er uns erzählt hat, wie dieser erhängt aufgefunden worden war und woran wir feststellen könnten, dass es sich tatsächlich um einen Suizid handle. So viel zur Theorie.

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Betreffen Sterben und Tod uns selbst oder unser Umfeld, schaut es meistens anders aus. So oft ich mit Menschen über diese Themen spreche, höre ich immer wieder: „Ich hab‘ gottseidank noch nie einen toten Menschen gesehen.“ Ich könnte das auch gerne sagen. Andererseits hat zumindest der Anblick eines Verstorbenen für mich ein wenig an Schrecken verloren. Als Tochter einer Mutter, die seit Jahrzehnten mit Menschen arbeitet, die oft am Ende ihres Lebens angelangt sind, die nicht erst einmal die Hand eines Sterbenden gehalten hat, kann ich nur Danke sagen. Danke dafür, dass ich schon im Teenageralter erleben durfte, dass ich vor diesem Thema nicht flüchten muss. Dass der Tod leider zum Leben gehört, auch wenn es schwer ist. Danke dafür, dass auch ich im Laufe der Jahre so viel von alten Menschen lernen durfte, von denen ich mich zwar früher oder später verabschieden musste, die ich aber bis heute nicht vergessen habe. Und dafür, dass ich, als meine Oma vor einigen Jahren im Krankenhaus verstorben ist, nicht gesagt habe: „Ich halte es nicht aus, sie so zu sehen.“ Ich habe sie zwar nicht mehr gesehen, aber das hatte mit Rücksicht gegenüber anderen Personen zu tun, denen der Umgang mit Toten weniger fremd ist als mir. Auch das ist okay gewesen. Der Tote, den die Feuerwehr anschließend aus dem Wasser ziehen musste? Klar bin ich geschockt gewesen, als ich ihn während eines Spaziergangs entdecken musste. Um fünf Uhr Früh.

Nein, schön ist es nicht…

Als mich vor vielen Jahren die Nachricht ereilt hat, der schwerkranke Vater meiner damals besten Freundin liege im Sterben, bin ich hingefahren und dabei geblieben. Ich hätte nicht zuhause sitzen und wissen können, was meine Freundin in diesem Moment durchmacht. Ich wollte eine Stütze sein und das bin ich damals auch gewesen. Der Suizid eines Freundes einige Zeit später dagegen ist verständlicherweise ein großer Schock gewesen. Ich bin Anfang 20, er ist nur drei oder vier Jahre älter gewesen. Wenn überhaupt. Ihn habe ich noch auf der Intensivstation besucht, kurz darauf ist er seinen Verletzungen erlegen. Daran habe ich lange „gekiefelt“, wie wir Wiener so schön sagen. Trotzdem oder gerade deswegen: Der jährliche Besuch an seinem Grab ist ein kleines Ritual für mich. Auch wenn es für manche lächerlich klingen mag: Ich setze mich davor auf den Boden, rauche eine und rede mit ihm. Jeder braucht ein Ritual, welches es auch immer sein mag. Jeder, der nicht verdrängt. Und ich finde: Dinge zu verdrängen, sich nicht mehr an ihn oder an das, was damals passiert ist, zu erinnern, ist falsch und auf Dauer vielleicht auch ungesund.

Allerdings, nun die wirklich schlechte Nachricht: An Schrecken hat der Tod für mich nicht verloren. Sich innerhalb von wenigen Monaten von zwei Menschen verabschieden zu müssen, die man von Herzen gern gehabt hat, so kurz nacheinander vor zwei Särgen stehen zu müssen, hilflos, wütend und traurig, das ist nicht einfach zu verkraften. Für mich nicht, aber schon gar nicht für die nächsten Angehörigen, die engsten Freunde. Mit ihnen offen reden zu können, das Gefühl zu haben, wenigstens irgendwas tun zu können, das hat mich in diesen Momenten vermutlich davor bewahrt, kurzfristig durchzudrehen. Der Schmerz ist da, physisch sind die beiden nicht mehr hier, aber die Erinnerung an sie lebt weiter. Das wird so bleiben und das ist gut so.

Eigentlich wollte ich mich kurz halten, aber für das Kommende musste ich ein wenig ausholen… Sorry an alle, die schon ausgestiegen sind. 😉

Leben und Tod, manchmal trennen sie nur Minuten oder wenige Meter…

Das „Schicksal“ oder wie auch immer man es nennen will, ist ein Hund. Wochenlang hatte ich mich mächtig ins Zeug gelegt, um den Mann, den ich längst ins Herz geschlossen habe, zum Spazierengehen zu treffen. Um ihm endlich klarmachen zu können, wie dumm ich so lange gewesen bin, das zu ignorieren. Kurz vor unserem Treffen dann ein Schüttregen der feinsten Sorte. „Super, jetzt scheitert das Ganze noch am Wetter“, habe ich mich geärgert. Eine halbe Stunde später haben sich die Wolken glücklicherweise verzogen und wir haben uns doch noch getroffen. Ein schöner Nachmittag. Ein sonniger Nachmittag. Eine nicht gerade über-, aber doch gut gefüllte Donauinsel. Zwischendurch ein kleines Bier auf der „Sunken City“ am Ufer der Neuen Donau. Sehr feine Gespräche. Auch über den Tod und das, was danach sein könnte – oder eben auch nicht. Lachen. Bussis. Einfach wunderbar.

Hätten wir das Lokal nur zwei Minuten früher verlassen, wäre der junge Mann vermutlich direkt neben oder vor uns aufgeprallt. Hätte mein Begleiter nicht vorgeschlagen, auf dieser Seite des Ufers zurück zu spazieren, hätten wir nichts mitbekommen. Hätte es Stunden davor weiter geregnet: Wir wären zuhause geblieben und für uns wäre gar nichts passiert. So allerdings mussten wir auf einmal sehen, wie der Mann schwer verletzt auf dem Asphalt unter der Reichsbrücke gelegen ist. Unter seinem Kopf: Blut und Gehirnmasse. Immer mehr Blut. Er hat noch gelebt, immer wieder nach Luft gerungen. Nein, der Tod ist wahrlich nichts Schönes.

Auch, wenn jemand scheinbar sterben wollte: Diese Minuten müssen ihm genauso endlos vorgekommen sein, wie uns. Natürlich haben wir Erste Hilfe geleistet, so gut es möglich gewesen ist. Die Rettung gerufen. Die Polizei verständigt. Versucht, den jungen Kerl anzusprechen, ihn wach zu halten. Mein Freund, der immer wieder seinen Puls gefühlt hat, hat mich irgendwann angeschaut. Mit diesem Blick, der selten etwas Gutes bedeutet. Ich weiß bis jetzt nicht genau, wie meine zittrigen Beine mich mehrmals die Stufen hinauf getragen haben, um den Rettungswägen entgegen zu laufen, ihnen zu zeigen, wohin sie müssen. Bloß keine Zeit verlieren, es ist klar gewesen, dass jede Minute zählt. Vermutlich sind Sanitäter und Notarzt innerhalb weniger Minuten bei uns gewesen. Für mich sind bis dahin Stunden vergangen. Vielleicht zwei Minuten später haben sie das Tuch über ihn gelegt. Nicht nur über seinen Körper, auch über seinen Kopf. Vielleicht nochmal zwei Minuten später habe ich dann auch begriffen, dass der Mann tot ist. Er ist vor unseren Augen gestorben.

Das ist anders gewesen, als damals beim Sterben des Vaters meiner Freundin. Auch er hat bis zur letzten Sekunde gekämpft. Aber es ist so viel friedlicher gewesen. Er hatte wenigstens einen großen Teil seines Lebens gelebt. Der Mann unter der Brücke ist so jung gewesen. Er hätte sein Leben noch vor sich gehabt. Ich will nicht darüber urteilen, warum sich jemand gegen dieses entscheidet. Ich habe ihn nicht gekannt. Nicht seine Sorgen, nicht seine Probleme. Ich weiß nicht, was in den Minuten und Stunden vor dem Sprung, vor dem Aufprall in seinem Kopf vorgegangen ist. Er muss sehr verzweifelt gewesen sein. Auch mein Freund M. hat damals seine Gründe gehabt. Dennoch bleibt es unendlich traurig und kommt mir so sinnlos vor.

„Schon arg, wie nah‘ Leben und Tod beieinander liegen“, hat mein Begleiter gesagt, als wir beide unsere Sprache wieder gefunden haben. Seiner Handbewegung folgend, habe ich schließlich verstanden, was er gemeint hat. Nur zwei Beinlängen neben dem jungen Mann wäre nichts als Wasser gewesen. Ein paar Schritte weiter nach links, er hätte leben können. Wir können nur vermuten, dass er das nicht wollte. Vielleicht der einzige Trost in diesem Moment.

Wir sind dann Arm in Arm weiter gelaufen. Viel geredet haben wir zuerst nicht. Ich glaube, die ersten Sätze sind von mir gekommen: „Schau, das ist eigentlich verrückt. Was wir gerade mitansehen mussten. Und ein paar Meter weiter sitzt ein knutschendes Paar auf einer Bank. Das Grüppchen dort vorne genießt seine Freizeit am Floß. Da oben lachen welche miteinander. Die haben gar nicht mitbekommen, was dort hinten inzwischen passiert ist.“ Tja, Leben und Tod, Freud‘ und Leid – zwei Paare, die nicht zu trennen sind. Für uns anderen geht das Leben weiter. Und weiter. Und hoffentlich noch sehr lange und glücklich weiter.

Auch wir sind nicht in Trübsal versunken. Haben noch ein wenig über das Geschehene geredet. Sind weiter spaziert. Haben gelacht. Sind uns einig gewesen, dass man das Leben noch viel mehr schätzen sollte. Und das unsere Leben mit Sicherheit nicht irgendwann am Asphalt unter einer Brücke enden werden.

Uns hat das Erlebte noch enger zusammen geschweißt. Sonne. Nähe. Schmetterlinge. Bussis. Freud‘ und Leid – manchmal liegen sie näher beieinander, als man denkt…

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