20! Tausend! Danke, Wien!

Wienerinnen und Wiener, ich bin unglaublich glücklich. Mehr als 20.000 von euch haben auf einen der letzten Sommerabende in diesem Jahr verzichtet, um gemeinsam auf die Straße zu gehen. Das Motto der friedlichen Kundgebung: Mensch sein in Österreich. Immer noch mehr Menschen strömen aus den U-Bahn-Stationen, es hört gar nicht auf. Mit großen Augen starren wir später auf die ersten Luftaufnahmen in den sozialen Netzwerken. 20! Tausend! Mindestens!

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Helfer versorgen Geflüchtete am Bahnhof

Während wir den Rednern lauschen, leisten freiwillige Helfer im ganzen Land Unglaubliches. Auch wenige Minuten von uns entfernt am Westbahnhof. Spontan bringen sie Getränke und Lebensmittel auf die Bahnsteige. Geflüchtete aus Ländern wie Syrien, Afghanistan und dem Irak sind in Ungarn festgesessen, nun dürfen sie Budapest endlich verlassen. Immer wieder kommen neue Züge an. Manche aus ihrer Heimat Vertriebene machen Zwischenstopp in Wien und fahren weiter, viele davon nach München. Manche bleiben, zumindest vorerst. Die Helfer jubeln, applaudieren, heißen die Menschen willkommen. Refugees welcome! Sie bringen Spenden zu den Zügen, halten den sichtlich erschöpften Männern, Frauen und Kindern Wasser und Lebensmittel entgegen. Kurzerhand kaufen sie den Supermarkt im Bahnhofsgebäude fast leer. Später wird Nachschub direkt zu den Gleisen gebracht – eine große Geste der Marktleitung. Eine solche Welle der Hilfsbereitschaft hat dieses Land schon lange nicht mehr erlebt.

All die Menschen mussten bereits genug mitmachen. Jetzt sollen sie wenigstens die letzten Kilometer ihrer Reise möglichst gut und in Ruhe hinter sich bringen können.

Es werden Feldbetten aufgestellt. Freiwillige bringen jene, die die Nacht nicht in Wien verbringen werden, zu den jeweiligen Bahnsteigen. Auch die offiziellen Stellen reagieren vorbildlich. Der Polizeisprecher sagt in die Kamera, man werde heute ganz sicher keine Personalien mehr kontrollieren. Seine Kollegen, die währenddessen den Demozug draußen begleiten, tragen ihre Helme demonstrativ in den Händen. Auch das: eine große Geste. Der ÖBB-Boss wird sich am nächsten Tag bei allen Mitarbeitern und Helfern bedanken. Innerhalb von nur wenigen Stunden hat sich Österreich in einen Ort verwandelt, der so lebenswert, lebendig und friedlich wirkt wie schon lange nicht mehr. Wir erleben, welch‘ große Dinge wir bewegen können, wenn wir nur zusammenhalten. An diesem Tag werden viele Österreicher und Deutsche zu Fluchthelfern. All die Menschen, die mit ihrem wenigen Hab und Gut und zumeist nach langer und gefährlicher Flucht in Budapest die Züge besteigen konnten, mussten bereits genug mitmachen. Jetzt sollen sie wenigstens die letzten Kilometer ihrer Reise möglichst gut und in Ruhe hinter sich bringen können. Gemeinsam leisten die Helfer hier schier Übermenschliches.

Möglich machen, was selbstverständlich sein sollte

Gleichzeitig versammeln sich über 20.000 Menschen unweit des Westbahnhofes und setzen ein Zeichen. Sie sind nicht einverstanden damit, wie ihr Land, wie ganz Europa mit Flüchtlingen, mit Vertriebenen umgeht. Mit der – so wirkt es nun einmal – immer noch viel zu großen Untätigkeit der Regierung. Mensch sein in Österreich. Möglich machen, was selbstverständlich sein sollte. Viele der Zwanzigtausend bewegen auch abseits dieser Kundgebung vieles, setzen sich für andere ein, fahren nach Traiskirchen, geben Deutschkurse und und und. Leuten, die ihnen oder zumindest manchen von ihnen Scheinheiligkeit vorwerfen, muss ich vehement widersprechen. Selbst Menschen, die „nur“ zu dieser Demo gekommen sind, haben damit bereits mehr getan als andere. Sie haben in Zeiten, in denen ein Klick auf Facebook oder auf einer Online-Petition oftmals mit Engagement verwechselt wird, den Hintern hoch bekommen. Das ist schon sehr viel. Muss man auch sagen.

Nie zuvor hat der Begriff Begegnungszone mehr zugetroffen als an diesem Tag.

Wir alle haben uns hier real versammelt und sprechen uns laut für Menschlichkeit, gegen Rassismus, Antisemitismus und Hetze aus. Wir stehen viel und gehen langsam, die Masse muss sich erst einmal ihren Weg durch die Mariahilfer Straße bahnen. Nie zuvor hat der Begriff Begegnungszone mehr zugetroffen als an diesem Tag. Die Stimmung schwankt zwischen ausgelassen und nachdenklich. Lachen und Weinen gleichzeitig. Es sind Trommeln zu hören, ein paar Pfeifen, immer wieder ruft jemand: „Say it loud, say it here, refugees are welcome here“. Wirklich laut ist es dabei nie. „We understand everything“, sagt ein älteres Touristenpaar verständnisvoll, als ihnen jemand den Grund für das Geschehen vor ihrem Hotel erklären will. Niemand eskaliert, die Demo verläuft bis zum Ende friedlich. „Es gab keinen einzigen polizeilich relevanten Vorfall“, wird die Polizei später verkünden.

Kerzen erinnern an die 71 Toten

Am Wegrand wurden Kerzen aufgestellt. Mittendrin ein Karton, auf den jemand die Zahl 71 gemalt hat. Sie steht für jene Frauen, Männer und Kinder, die erst wenige Tage zuvor in einem LKW erstickt sind. Gefunden auf einem Pannenstreifen an der burgenländischen A4. Im Mittelmeer sterben ständig Menschen, die vor dem Grauen in ihrer Heimat flüchten. Massenweise. Doch so nahe ist uns der Tod von Flüchtlingen im wahrsten Sinne noch nie gegangen. Ich denke, diese Betroffenheit hat zusätzlich Menschen mobilisiert, auf die Straße zu gehen. So etwas darf nie! wieder! passieren.

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Menschen- und Lichtermeer vorm Parlament

Als wir nach Stunden vor dem Parlament eintreffen, landen wir in einem Meer aus Menschen. Viele halten Lichter in die Höhe. Ein Mann schenkt mir spontan seine Kerze. Ich halte sie hoch, fühle, wie das Wachs über meine Hand läuft und fühle mich ein wenig wie beim legendären Lichtermeer vor zweiundzwanzig Jahren. Damals haben wir ein großes Zeichen für mehr Menschlichkeit gesetzt – heute bekräftigen wir es. Georg Danzers Stimme ertönt aus den Boxen. „Gebt uns endlich Frieden“, singt er. Würden seine Worte nur wahr werden…

Etwas ganz Großes ist an diesem Abend passiert. Eine Lawine an Menschlichkeit hat Österreich überrollt. Mitten in Wien. Es könnte eine Initialzündung gewesen sein. Mit der Gewissheit, dass wir im Kollektiv wirklich Großartiges schaffen und den Hetzern und Spöttern entschieden und selbstbewusst entgegen treten können, sollte das doch klappen. Wir sind vielleicht leiser, aber wir sind definitiv mehr.

Wien, du machst mich glücklich. Wenn du das weiterhin schaffst, werde ich nie wieder sudern. Versprochen.

 

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2 Gedanken zu „20! Tausend! Danke, Wien!“

  1. Nie wieder sudern? 😉 Ich fürchte, das wird nicht leicht zu schaffen sein. Aber ein hoffnungsvoller Vorsatz dieser wunderbaren Schilderung.

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